FILMTIPP #97: FILMISCH REISEN (7). STAGECOACH VON JOHN FORD (USA 1939).

Illustration: Screenshot

Im Vorfeld der Produktion wurden Marlene Dietrich und Gary Cooper für die Haupt­rol­len von Stagecoach gehandelt, am Ende wurden es die vergleichs­wei­se ungla­mou­röse, doch warmherzige Claire Trevor und der third-row-actor John Wayne, und der er­hielt von allen neun Charakteren, die in oder auf der Postkutsche (amerik. stagecoach oder einfach stage) nach Lordsburg reisen, mit 3.700 $ dann noch die geringste Gage.

Und doch hat Wayne alias Ringo (“the Kid”) nach einer guten Filmviertelstunde one of the most stun­ning entran­ces in all of cinema (Edward Buscombe). Da steht er plötz­lich, mit ei­nem Pfer­de­sattel am linken und einem Gewehr am rechten Arm, und ruft den Kut­schern auf dem Bock sein Hold it! zu. Wie überrascht fährt die Kamera auf den Wegela­ge­rer in der klassischen amerikanischen Einstellung zu, in der man soeben die Colts noch sieht, um für einen Moment den Fokus zu verlieren und endlich beim Porträt anzukommen.

Ford liebte Bilder; die sich unmittelbar mitteilen – Metaphern, Symbole, kompli­zierte Syntagmen gibt es bei ihm eher nicht; auch eilt ihm der Ruf voraus, direkt “in der Ka­mera” zu montieren und den Schneidetisch nie aufgesucht zu haben. Immer­hin überließ er hier dem Gestaltungswillen seines Chefkameramanns Bert Glennon freien Lauf. Wenn Fords späterer Western The Searchers (1956) so etwas wie die Sixtinische Ka­pelle der Technicolorfilms darstellt, dann entspricht Stagecoach in seinem expressiven Schwarz­weiß dem graphischen Chiacoscuro eines Meisterblatts von Rembrandt.

Eine seltsam zusammengewürfelte Gruppe kommt in der Kutsche zusammen, um in 90 Filmminuten zwei Tage Realzeit auf einer Reise miteinander zu verbringen: ein meist betrunkener Dok­tor ist dabei und ein verschüchterter Schnapshändler, ein betrügerischer Banker wie die hochschwangere Offiziersfrau, die von einem gebrochenen Südstaaten-Gambler hofiert und beschützt wird; hinzu kommen eine nicht mehr erwünschte Hure und eben Ringo, der die Reisegruppe bald komplettiert. Jeder Charakter hat seine back story, die im Lauf der Reise enthüllt und erweitert wird; dabei geht es um Entwick­lun­gen, die jeweils auf die Differenz von Respektabilität im Falschen, Äußerlichen zu in actu ver­d­ien­ter Wertschätzung verweist. Dallas, aus der Stadt gejagt von einer karikierten weibli­chen League of De­cen­cy, nimmt die größte Entwick­lung, Ringo muss sich noch durch einen Racheakt von einem Joch befreien. Erst dann sind beide auch frei füreinan­der, los­ge­löst von den blessings of civilization, wie das berühmte Fazit des Films lautet.

Eine Romanze in der Gestalt eines Western? Das auch, und doch: weit gefehlt. Phäno­me­no­logisch ist Stagecoach eine Reise ins Unbekannte der mensch­lichen Psy­che unter größter Belastung ebenso wie in äußerlich feindliches Ge­lände. Es kann kein Zweifel da­rüber herrschen, dass es Ford hier (noch) nicht um die Sache der Indianer ging, auch wenn er mit den Navajos, die hier Apachen spielen, befreundet war. Sie sind eins mit der Land­schaft, in der knapp neunminütigen Ac­tion­se­quenz gegen Ende fallen sie ano­nym wie Blätter von den Bäumen. Ford ging es um größtmög­liche Ab­sei­tig­keit für seine Büh­ne menschlicher Affekte. Dafür fand er ein abgelegenes Hoch­tal nah der Gren­ze von Ari­zona zu Utah, zum Zeit­punkt des Drehs 290 Ki­lo­meter vom nächsten Bahnhof ent­fernt. Was uns als Monument Valley, die Hymne von The Mag­ni­fi­cent Se­ven und den Duft des Marlboro Country so geworden vertraut ist, war 1939 nichts an­de­res als In­dia­ner­land, dessen bizarre Felsformationen Na­men wie Yei-Bi-Chei, King-on-his-thro­ne, Big Chair und Totem Pole trugen. Mit ihrer Hilfe erfand Ford die Land­schafts­ma­le­rei noch einmal, in all ihrer fremden Erhabenheit und mit maßstäblich doch ziemlich kleinen Menschen.

Filmhistorisch mag man Stagecoach als Beginn des Erwachsenenwesterns nehmen oder als irgendeinen anderen Grenzstein. Es ist wahr, Wayne ist nicht mehr wie ein Ope­ret­tencowboy ausgestattet, und es gibt Anspielungen auf die Wirtschaftskrise nach dem New Deal, doch realistisch ist der Film deshalb noch lange nicht: allein auf der fotografischen Ebe­ne gibt es jede Menge Tricks, von denen am meisten verblüfft, dass keiner der Haupt­ak­teure au­ßer John Wayne je im Monument Valley gewesen ist, auch nicht am Muroc Dry Lake in Kalifor­nien, wo der Rest der Außenaufnahmen entstand: Alles ist Bühne, das meiste Stu­dio. Ande­rerseits legte Ford soviel Wert auf authentische Action wie Buster Keaton. Der Ober­stuntman Yakima Canutt ließ sich tatsächlich vom Leitpferd aus unter die Kut­sche fal­len, die dann über ihn rollt; auch das sprichwörtliche fording a river, einen reißen­den Fluß (hier: mit einer Kutsche) zu queren, war Canutts Beitrag.

Unterm Strich ist Stagecoach noch mehr moral tale als ein Western. Ein Lehrstück, ver­kleidet in einen kleinen, feinen Genrefilm, und damit Ausweis der vielleicht größten Stärke Hol­lywoods: Einerseits größtmögliche Offenheit selbst für Intellektuelle bereit zu halten – Orson Welles soll den Film 40mal gesehen haben, ehe er Citizen Kane drehte –, doch vor allem absolut zugäng­lich für sogenannte einfache Menschen zu sein.

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