FILMTIPP #6: ROOM 237 VON RODNEY ASHER (USA 2012). AMAZON PRIME.

Mit den Filmen Stanley Kubricks wird man nie fertig, auch wenn es über sie viel Kluges zu lesen gibt. Eine große Ausstellung aus dem Nachlass, den Kubricks deutsch­stämmige Frau dem Frankfurter Filmmuseum überlassen hat, brachte auch nicht wirklich Abhilfe. Im ex­zellenten Katalog zu der Schau schrieb Thomas Elsaesser, Kubrick habe in allen klas­sischen Genres gearbeitet, sei also gar nicht der klas­sische Autoren­filmer, für den er im­mer gehalten wird, er habe vielmehr in jedem Genre einen Pro­totypen hinter­lassen. Wenn dem so ist, dann hätten wir die folgenden kul­turellen Muster, an denen sich Jungregisseure für alle Zeiten abar­beiten können: in Killer’s Kiss den Film noir; in The Killing das Heistmovie; in Paths of Glory den Film über den Ersten Welt­krieg; in Spartacus den Sandalenfilm; in Lolita: Literaturverfilmung und Psy­cho­drama; in Dr. Strangelove, or How I Learned to Stop Worrying and Love the Bomb die Politik-Satire; in 2001: A Space Odyssey selbstverständlich den Science Fiction-Film; in A Clockwork Oran­ge Dystopie und Erziehungsroman; in Barry Lyndon das Historien­drama; in The Shi­ning den klassischen Psycho-Horror; in Full Metall Jackett den Viet­namfilm; in Eyes wide shut das Ehedrama.

Nun zeigen leider all die neuen Möglichkeiten, Filme zu sehen, eine gemeinsame schlechte Eigenschaft: Netflix, Amazon, Youtube und der Rest vergessen das Filmerbe. Klas­siker wie Kubrick, Lang, Dreyer, Ford, Renoir oder Antonioni und Ros­sel­lini sind hier nur schwer zu finden. Zwar gibt es manches, aber nur gegen einen Aufpreis; so wird Streamen annähernd so teuer wie ein Kinobesuch. Auch werden alte Filme hier einfach bereit gestellt, lieblos, könnte man sagen, wenn man die aufwendig produzierten Extras mancher DVD-Editionen dagegen hält. Der große visuelle Schatz des Films, die älteste Kunst des 20. Jahr­hunderts, sie blüht im Netz noch weitgehend im Verborgenen.

Stanley Kubrick legte dagegen offen, was Film alles kann. Um zu zeigen, was Kubrick alles konnte, wäre man, wie in jeder Wissenschaft, auf Bücher, auf die erklärende Schrift angewiesen – gäbe es nicht den kleinen Film, den ich heute empfehlen will. Er heißt Room 237, nach dem Zimmer in jenem Overlook-Hotel, in dem Jack Nicholson in der Paraderolle seiner gesamten Karriere langsam wahnsinnig wird und versucht, seine eige­ne kleine Familie auszulöschen.

Der Regisseur Rodney Asher hat eine wirkungsvollen Strategie, um The Shining zu erklären: kein Making-of, keine Interviews mit saturierten Schauspielern, wie sie sonst gerne versammelt werden, sondern eine gute Handvoll von Menschen, die “alles” über den Film zu wissen meinen und daraus eine eigene Theorie basteln. So sieht ein Experte Hinweise auf die Ausrottung der amerikanischen Ureinwohner, andere logische Feh­ler, die Kubrick natürlich absichtlich gemacht habe, um Bildspannung und damit Unbehagen zu erzeugen; es geht einmal mehr um die These von Kubrick als Autor der Mondlan­dung, nicht zuletzt auch um Verweise auf den Holocaust, die ein bekannter Geschichts­pro­fes­sor gibt.

Das alles klingt geschrieben tatsächlich bizarr – und doch, sieht man, hört man die The­sen von Room 237, gerät man in den Bann dieses Films. Die eigentümlichen, teilweise kru­den Thesen erzeugen von selbst Distanz; gleichzeitig ist alles da, findet sich alles, was da so behauptet wird, im Bild “bewiesen” oder zumindest gestützt. So erweist sich ein­mal das Wirkungs­vermögen von Film allgemein: Die Meta-Ebene überbor­den­der Theo­rien macht ungewollt plausibel, dass die Entscheidung darüber, was uns im Kino rührt, äng­stigt, schmunzeln lässt, was uns überzeugt, immer bei uns bleibt. Wir, die Zu­schauer, sind die eigentlichen Souveräne dieser Kunst. Darüber wurden auch schon eini­ge Bücher ge­schrieben. Hier muss man nur zusehen und -hören. Es lohnt sich unbedingt.

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