FILMTIPP #11: DAS RAD, MEIN FREUND UND HELFER (TEIL 1).

Ingelheim fährt Fahrrad. Auch die Filmfreunde haben beim Stadtradeln eine eigene Grup­pe gegründet. Fahrradläden erleben einen Boom. Meine Oma lief vor hundert Jah­ren noch einmal in der Woche zu Fuß zum Markt in der Kreisstadt, sechs Kilometer ein­fach, mit einem vollen Korb Obst und Gemüse auf dem Rücken. Nur mein Opa hatte schon ein Fahrrad, mit dem er nachkam.

Existenziell war Fahrradfahren noch einmal nach 1945. Als man dem Plakatkleber Anto­nio im Rom der Nachkriegszeit das Rad stiehlt, wird das zur Kata­strophe mit sozialen Fol­gen. Der Bestohlene, selbst zum Dieb eines Rades ge­wor­den, kann für den eigenen Sohn nicht mehr Vorbild sein. Der Film ist natürlich Lad­ri di Biciclette/Fahrraddiebe von 1948 – im Plural, denn dem italie­nischen Neorea­lis­mus ging es stets um dieselbe Frage: Wie werden wir Italiener wieder zu einer Gemeinschaft, nach dem Faschismus? Wie stehe ich als Einzelner zum Staat (am Ende: eher negativ) und zur Familie (grund­sätz­lich positiv)? Das Ganze ungeschönt, mit Laien, am realen Ort, mit Direktton und im Dialekt, schwarzweiß und mit insgesamt möglichst authentischer Wirkung inszeniert. So schoss das Land für eine kurze Zeit an die Spitze der Welt-Kinematographie. Ladri di Bici­clet­te gibt es in einer perfekt restaurierten Fassung auf Youtube.

F!F-Mitglied Rudolf Nowak erinnert uns an Cinema Paradiso (von Giuseppe Tornato­re, 1988), in dem Fahrräder ebenfalls prominent mitspielen. Wir haben den wunderschö­nen Film vor ein paar Jahren auf dem Ingelheimer Stadtplatz gezeigt. In die­sem Winter ha­be ich auf Sizilien ein toll erhaltenes Art-Deco-Kino foto­gra­fiert, das mir diesen filmi­schen Ausflug in die Vergangenheit nochmals in Erinnerung rief. Darüber hinaus mag ein solches Überbleibsel daran erinnern, dass der Erinnerungsspeicher Kino als Be­stand­teil unserer Innenstädte unersetzlich ist (s. Foto).

Ein zweiter Klassiker aus derselben, der guten alten Zeit des Fahrrads und des Kinos, ist Jour de Fête/Tatis Schützenfest von und mit Jacques Tati als Landbriefträger, der seine Briefe aus­fährt. Frank­reich stand nach dem Krieg besser da als sein Nachbar Italien. Doch das Land blieb sehr bei sich, so wie Tati Solitär blieb, ohne Schüler, un­nach­ahm­lich. Leider gibt es den Film nicht im Netz, ebenso wenig wie den nächsten: Das Fahrrad als so­ziale Her­aus­for­derung taucht erst spä­t wie­der auf, in Bel­gien, einem, nach seinen Fil­men zu urtei­len, nicht ganz so freund­lichen Land. Die Brüder Jean-Pierre und Luc Dar­denne schlos­sen mit Le Ga­min au Vélo/Der Junge mit dem Fahrrad (2011) direkt an den Neorea­lis­mus an, dem es darum gegangen war, “dem Kino den Sinn für die Viel­deutigkeit der Wirklich­keit zurückzu­ge­ben” (André Bazin). Keine melodrama­tische Zuspitzung, über­haupt keine spürbare Dramaturgie; ein Fluß, wie das Leben. Für diese Eigenschaften wurde Ladri di Bi­ci­clet­te auf der ersten Liste von Sight and Sound 1952 zum besten Film der Welt gewählt, eine Um­fra­ge, die Legen­de ist, weil sie nur alle zehn Jahre stattfindet. Wir sind schon gespannt auf 2022.

Ein Wort noch zum Auftritt von Ladri di Biciclette auf Youtube: Irgendjemand hat den Film – illegalerweise – ins Netz gestellt, den wir in dieser Qualität der Criterion Collec­tion ver­danken, einer New Yorker Firma, die durch ihre vorbildlichen Editionen Lor­beer ver­dient: Abtastung in 4k, Restaurierung des Originals, Essays, Extras, alterna­tive Fas­sun­gen. 30 Dollars und mehr werden für eine DVD oder Blu-Ray von Criterion fällig.

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