FILMTIPP #43: WILD VON NICOLETTE KREBITZ (D 2015).

Auf DVD und (gegen Aufpreis) zu streamen.

Dieser Film ist wahlweise krass, mutig, oder eine Provokation. Wir haben ihn im F!F-Vorstand zusammen angesehen, waren beeindruckt – und haben ge­meinsam beschlossen, ihn unserem Ingelheimer Pub­likum nicht zu zeigen.

Ein Film, der zensiert werden muss? Das wiederum nicht, wie das Gutachten der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK) aus­weist, die Wild ab 16 Jahren freigab und ihm lediglich die vom Produzenten beantragte FSK 12 ver­wei­gerte. “Das Verwischen und Überschreiten der Grenzen zwischen Mensch und Tier, das Spiel mit weibli­chen Fantasien der Lust in Verbindung mit dem Wolf, von Lust und Schmerz in einem realitäts­nahen Setting über­for­dert die kognitive und emotionale Kompetenz von 12-jährigen. 16-jährige hingegen sind aufgrund ihres kognitiven und psy­cho­sozialen Enwick­lungs­stan­des wie auch ihrer medialen Kenntnisse und Erfahrungen in der La­ge, In­halt und Anlage des Films zu identifizieren, mit den aus seiner The­ma­tik und der Inszenierung erwach­sen­den Irritationen, der möglicherweise evo­zier­ten Abwehr und Abscheu so umzugehen, dass nach­haltig verstörende oder des­o­rientierende Effekte nicht zu befürchten sind.” Soweit das Gutachen der FSK.

Worum geht es? Eine junge Frau, Ania, lebt isoliert in einer Hochhaussied­lung am Rand von Halle-Neustadt. In einem Park entdeckt sie einen echten Wolf. Sie fängt das Tier dank einer alten List und einigen asiatischen Hel­fe­rin­nen ein und bringt es betäubt in ihre Wohnung. Von da an lebt sie mit dem Tier zusammen, wie einst Joseph Beuys mit seinem Coyo­ten. Nur ist das kei­ne Konzeptkunst: Der Wolf erfüllt reale Sehnsüchte Anias, wie das offen­bar kein Mensch bzw. Mann vermag. Ihr Verhalten im Büro und ihrem Chef ge­gen­über, der ein seltsames Interesse an der jungen Frau hat, wird immer biz­za­rer. Am Ende bricht Ania mitsamt Wolf in eine menschenleere Einöde auf.

Allein dass die Hauptdarstellerin Lilith Stangenberg sich getraut hat, mit ei­nem echten Wolf zu spielen, genauer gesagt, mit zwei Wölfen, die beim Dreh wechsel­ten – man will kaum hinsehen, weil man wie erstarrt ist vor Respekt und gemischten Gefühlen, wenn der Wolf, in einer wahrhaft schauerlichen Szene, das Menstruationsblut der Protago­ni­stin von ihrem Bein leckt. Nie wird er freilich Freund oder Begleiter. Er bleibt das wilde Tier. Wo die Film­in­dustrie heute fast jedes anima­li­sche Wesen in CGI generiert und dennoch im Ab­spann verkündet, kein Tier sei während der Dreharbeiten verletzt wor­den, ar­beitete das Team von Wild vor Ort mit einem Tiertrainer und allerlei ess­ba­ren Belohnungen, die den Wolf bzw. die Wölfin zum Schauspieler wer­den ließen. Auch die toten Kaninchen waren echt, sie kamen aus der “Tier­ver­wertung”, die unsere Autobahnen und Landstraßen von Kadavern befreit.

Dennoch sollte man den Wolf nicht als allzu echt, allzu real ansehen. Wäre das Ganze ein Gemälde, wäre klar, dass es sich um eine Pro­jektion, eine Ein-Bildung der Protagonistin handelt, die wir eben mitsehen. Solche “Ge­spen­ster der Vernunft” gibt es spätestens seit Bosch und Grüne­wald, bei Füss­li und weiteren malenden Symbolisten. Der Hanni­bal-Lecter-Saga liegt mit dem “Roten Drachen” von William Blake nichts anderes zugrunde. Doch der Wolf in Wild ist fotografiert bzw. gefilmt, darum halten wir ihn für echt. Dass er im Bild ist, also kein echter Wolf, sondern das Bild eines ech­ten Wolfes, in dessen Raum wir niemals eintreten werden – ge­schenkt. Doch soll an die­ser Stelle festgehalten sein, dass wir im Kino der sogenannten Biologi­schen Psy­cho­logie unterliegen: Wir glauben und fühlen Gesehenes und Ge­hör­tes – immer unter der Vorauset­zung, dass es gut gemacht ist. Bei gestal­te­risch Minder­wer­tigem steigen wir aus. Und: Gute Gestaltung über­trifft die Rhetorik der Story an Überzeugungskraft bei weitem.

Wäre Ania ein Kind, könnte man das Ganze als Märchen verbuchen, dort kommt der Wolf mit dem Mädchen ja prominent vor. Da Ania aber mitten im Leben steht, wenn auch für bürgerliche Kategorien ziemlich verquer, wäre die vorgeschlagene Lesart die des Porträts einer vereinsamten jungen Frau, de­ren Not einer besonderen bildlichen Metapher bedarf, um sie auf die Spitze zu treiben. Eine radikale Idee, ein bemerkenswerter Film – aus Deutschland.

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