FILMTIPP #37: TSCHICK VON FATIH AKIN (D 2016).

Bildquelle: rbb-online.de

Verfügbar auf Amazon prime.

In normalen Zeiten und normalen Jahren ist der Dezember angefüllt mit viel Ar­beit, Ab­schlüs­sen, Festvorbereitungen und Glühwein auf dem Weihnachts­markt. Im Co­ronajahr summiert sich das in ein ungebrem­stes, einsames Agie­ren am häus­lichen Computer. Schaut man hinaus, ist die Welt men­schen­leer und grau. Da hilft es vielleicht, auf das absolute Gegenteil auf­merk­sam zu ma­chen, einen Film voll mit prallem Leben, Sommer, jungen Leu­ten, die freund­schaft­lich mit­einander umgehen und höchst skurrile Dia­lo­ge führen.

Der Roman Tschick von Wolfgang Herrndorf hat sich 2,4 Mio. mal verkauft. Vielerorts war das Buch Oberstufenlektüre. Bei einem solchen Er­folg bleibt eine Filmversion unausweichlich. Fatih Akin hat es geschafft, sein Werk auf Augenhöhe mit der Vorlage zu gestalten. Das klappt be­kannt­lich nie durch reines Nacherzählen. Die Story, die Typen, die Dialoge, die Land­schaft sind nichts als das Skelett, das der Film mit eige­nen Ideen anfüllt – fil­mi­schen Ideen. Hier lugt das Wort­skelett nicht oft un­ter den Bildern her­vor. Mein Lieblingsdialog zwischen Maik und Tschick führt im Stakkato von den Him­melsrichtungen zum Krei­sel­komp­ass, vom Alko­kohol zum Ro­man Der See­wolf und zur Band Step­pen­wolf; bei de­nen ging es auch um Dro­gen, schließt Tschick. Gekrönt wird das Wort-Dada durch einmal mehr “Pour Adeli­ne”, geklimpert von Ri­chard Clay­der­man im Kassettendeck des ge­klauten Lada.

Tschick (Anand Batbileg) ist der Magnet des Films, ein “jüdischer Zigeuner”, wie er von sich sagt. Daher kommt er als Nachwuchsirokese, und der will zu sei­nem Opa in die Walachei. Sein größtes Geheimnis wird er, wie immer lä­chelnd, am Ende seinem neuen Freund Maik beichten. Maik (Tristan Göbel) hat Probleme mit Themen, über die Tschick fröhlich hinweggeht: in der Schu­le, mit den Eltern, im Liebesleben, also vieles, was Her­an­wach­sende so umtreibt. Aus Maiks Perspektive ist die Ge­schichte dieses Roadtrips er­zählt; dem introver­tier­ten, reflektierten Jungen neigt sich so die Em­pa­thie des Publi­kums zu. Über Tschick erfährt man weniger. Er han­delt situativ und erhebt sich fast immer über die bürgerliche Norm(alität). Ein Hauch von Anar­chie bleibt bei stets ihm, dem gut gelaunten Huck Finn des Films.

Wenn man sich die allerpopulärsten Filme ansieht, in Rang­listen wie etwa der IMDB, trifft man immer wieder auf dieses Muster: In einer vi­suell at­traktiven Um­gebung bildet sich eine Gegenwelt zur Normalität, oft im halb­legalen Be­reich. Einzelnen Mitgliedern wird im Lauf der Erzählung ge­stat­tet, in die gro­ße Gemeinschaft zurückzukehren, geläutert natürlich und nun auch mit den not­wendigen Skills ausgestattet. Man nennt das die filmi­sche Hel­den­rei­se. Der Mythenforscher Joseph Campbell hat sie in seinem Buchklas­si­ker von 1949 im Rück­griff auf antike Erzählungen schulbildend beschrieben.

Helden sind die zwei Jungs und das Mädchen Isa, das die beiden treffen, nicht un­be­dingt. Ihre gemeinsame Wegstrecke als Zuschauer zu begleiten ist aber mehr als Unter­hal­tung mit einem Schuss Tra­gik. Notwendig war, den Ro­man zu kür­zen; der Ver­gleich führt nicht weiter, weil der Film seine eige­nen Qua­li­tä­ten hat. Drei dieser Qualitäten seien genannt. Das Farbschema ist in Richtung Grün und Gelb, Blau und Türkis entwickelt, was den Bildern ei­ne erhabene, tröstli­che Distanz gibt. Akins Lieblingseinstellung ist der senk­rech­te Top Shot, der zeigt, dass es da noch ein anderes Auge gibt als das freundlich beobachten­de. Und natürlich lebt der Film von seinem Score, wie immer bei Akin eine eigene Spur, die dem Erzählten neue Ho­ri­zonte zufügt und zu einer Erklä­rung des Sichtbaren beiträgt, die einen positiv mitnimmt.

F!F hat Tschick mit Partnern im geräumigen und gepflasterten Hof eines Weinguts gezeigt, als Freiluft-Event und mit Vorband. 250 Men­schen kamen und waren sehr angetan. Noch ein Akin-Film hat unser Pub­likum begei­stert, Soul Kitchen (2009), diesmal in der Kelter­halle eines Wein­guts. Im Juli (2000) oder Solino (2003) des Hamburger Re­gis­seurs könnten wir noch zei­gen – auch das sind Feelgood-Mo­vies mit Tiefgang über Men­schen, die sich in ihrem Leben von der Stelle bewe­gen. Was wir bräuch­ten, wäre “nur” die warme Jahreszeit, erneuter Optimismus und der jeweils besonde­re Ort, an dem sich unsere Gäste zu einem beson­de­ren Film einfinden dürften.

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