FILMTIPP #110: CASABLANCA VON MICHAEL CURTIZ (USA 1942).

Illustration: Inka McAtee, nach einem Entwurf von Ad Reinhardt.

Eine spannende Frage der neueren Kunstgeschichte ist, was nach 1945 in den bisherigen Sparten geschah, in denen sich bildende Kunst bis dato in der Haupt­sache manifestiert hatte – das waren vor allem Malerei, Grafik und Skulptur.

Etwa zehn Jahre hatte die klassische Kunst noch einmal Zeit, sich zu positio­nieren, ehe POP das Zepter übernahm; Pop hieß: neue Objekte, neue Ver­triebswege, neue InteressentInnen und vor allem Verbrauch, nicht Verbleib.

So kam die Idee des genialen Künstlers ebenso in eine Krise wie die Bereit­schaft des Publi­kums, sich in erratische Werke zu versenken, um irgendwel­che Geheimnisse zu ergründen. Was nicht exzentrisch, unmittelbar einseh­bar oder ­mindestens dekorativ daherkam, geriet ins Hintertreffen. Darauf rea­gier­ten vor allem amerikanische Künstler mit großer Bemühung. Michael Rott­mann hat in einem verdienstvollen Buch nachgewiesen, wieviel Überle­gung in der Kon­zeptkunst um 1960 steckte: stets haptisch/an­schau­lich, kon­text­be­freit, selbstreflexiv, noch und nur Kunst (M. Rottmann, Gestal­te­te Ma­the­ma­tik. Geometrien, Zahlen und Diagramme in der Kunst in New York um 1960. Mel Bochner – Donald Judd – Sol LeWitt – Ruth Vollmer. München 2020).

Ein Film, als Kunstwerk betrachtet, hat aber nicht die eine Schauseite, den einen Anblick, sondern viele Stellen, an denen er sein Publikum überzeugen kann. Methodisch bedeutet das zunächst, dass man den Film nicht an einem Punkt anhalten sollte und ein Bild (oder etwas ähn­liches, wie ein Film­plakat) erhielte, das alle Geheimnisse enthält und ent­hüllt. Film ent­fal­tet sich in der Zeit. Die oft gestellte Frage nach der eigentli­chen Bild­ge­stalt, dem wahren Charakter des Films muss das berücksichtigen. Das Schlüssel­wort für den Bildcharakter des Films ist daher Komposition. Dies geht nun wie­derum ei­gen­artig zusam­men mit den geometrisch-morpho­logischen Inte­res­sen der frühen ame­rikani­schen Concepts Artists; Klarheit und Einsichtig­keit der Form gilt ih­nen eben­so viel im Blick auf das Einzelwerk wie auf dessen Ort im Gan­zen, in einem mor­pho­logisch verstandenen Kon­zept der Gesamt­kunst­ge­schich­te. All das lässt sich auf Filme übertragen.

In diesem Sinne schreibe ich heute über den einen, wenn nicht den popu­lär­sten Film aus der klassischen Phase Hollywoods. Casablanca löst in vie­ler Hinsicht Fragen auf, die sich an einem Kunststück aus des Mit­te der arbeits­teiligen Grand Production (D. Bordwell) Hollywoods ent­wickeln las­sen. Über die Entstehung des Films erteilt eine sou­veräne Mono­gra­phie von Al­jean Harmetz Auskunft (Dt. Verhaften Sie die üb­lichen Ver­däch­tigen. Wie Casablanca gemacht wurde. Berlin Verlag 2001). Schon diese An­näherung zeigt, dass es Sinn macht, zumindest für Hollywood vom klas­sischen Werk­begriff auszugehen, von einem fertigen, festgefügten Objekt, nicht vom flui­den, sich am Ende auflösenden Kunstbegriff des 20. Jahr­hun­derts. Der Film als Gattung steht somit irgendwo zwischen dem 19. und dem 21. Jahr­hundert und überbrückt das dazwischenliegende. Als Einzelstück hat er (mindestens in diesem Fall) eine bernsteinhafte Schönheit, im Ganzen geht die Entwick­lung aber zum offenen System, das aus sich selbst heraus lebt und in seiner Interpre­tation nie abge­schlos­sen ist. Zur Illustration die­ser Sachlage benutzen wir eine Grafik des Malers und Theo­reti­kers Ad Rein­hardt (1913-1967), der damit die ur­sprüng­lich die Ent­wick­lung der modernen Kunst in den USA illustriert hat. So verweisen wir auf die Genese des Films im amerikanischen Studiosystem und deuten doch eine offene Zukunst an.

Ein Mann lässt eine Frau gehen, obwohl er sie und sie ihn liebt. Das ist die gängige Les­art des legendären Melodrams aus Hollywood. Beginnt man über Casablanca als Film des Herstellungsjahres 1942 nachzudenken, in dem sich die Zeitgeschichte spie­gelt, vermehren sich die Interpre­ta­tions­möglichkeiten bereits. Allein das Datum, das Humphrey Bogart eingangs auf einem Scheck einträgt, ist sig­ni­fi­kant: Es geht um die Tage vor dem 7. Dezember 1941, dem Tag von Pearl Ha­rbour, als japa­ni­sche Flug­zeuge im Pazifik die amerikani­sche Flotte attackierten und die USA in den Krieg eintraten. Casa­blanca war auch ein Kriegseintrittsbegründungsfilm.

Und dann ist natürlich auch der Rang des Kinoklassikers zu beachten, der den Film als Syno­nym von Hollywood schlechthin hat werden lassen. Der Kult setzte erst mit dem Tod Bogarts im Januar 1957 ein. Wenige Wochen später be­gannen Studierende der Harvard University, die Erfolge des Schau­spielers neu zu sichten; daraus entwickelte sich der Ritus, die besten Dialoge gemein­sam mitzusprechen. So kristallierte sich die offenkundigste Stärke des Films her­aus: Er ist voller Sät­ze, die nicht nur in diese Story passen, sondern als viel­fach an­wend­bare Regula­rien, als Ratgeber für vielerlei Situationen des Alltags auf Dauer funktionieren. Hier er­reicht Ca­sablanca seine univer­selle Dimension. Eine Aus­wahl ge­fällig? Sascha, der Barkeeper: Yvon­ne, I love you, but he pays me.– Cpt. Re­nault: What in heaven brought you to Casa­blan­ca? Rick: My health, I ca­me to Casablanca for the wa­ters. Renault: But we’re in the desert? Rick: I was missinformed.Haupt­mann Strasser: What is your natio­na­lity? Rick: I’m a drunkard. Renault: And that makes Rick a ci­tizen of the world. Ilsa: Rick, who is he? Renault: Well, he’s the kind of man, that, if I were a woman, and if I wouldn’t be around, I should be in love with. Rick: Of all the gin joints in all the towns in all the world, she walks into mine.Rick zu Ilsa: You can tell me now, I am reaso­nably sober.– Renault: I have no conviction. I blow with the wind. And the prevailing wind happens to be from Vichy.– Annina, Exi­lierte aus Bulgarien: What kind of man is Cpt. Renault? Rick: Just like any other man, only more so.– Renault zu den beiden Verlobten aus Bulgarien: Co­me to my offi­ce in the mor­ning. Der junge Mann: We’ll be there at six. Renault: I’ll be there at ten.–

Das kann man als Sammlung von Klischees verstehen, wie der Intellek­tuel­le Umberto Eco. Oder als Ausdruck der Fähigkeit Hollywoods, trivial zu wirken und im glei­chen Moment eine Intelligenz der Weltaneignung zu zeigen, mit der jede/r im Publikum etwas anfangen konnte, etwas anfangen kann. So ist dieser Film zu verstehen: als Ausdruck einer Kunst, die nicht abge­ho­ben, nicht das Vergnügen der happy few ist, sondern allen auf Dauer zu­gäng­lich.

In un­se­rer An­pas­sung der Grafik Ad Reinhardts auf das klassische Hol­ly­woodsy­stem schält sich der Ort heraus, an dem Casablanca hier anzusiedeln wäre. Auffällig sind die Kennzeichnungen, die den Film über individuelle Beiträge hin­aus, und seien sie noch so genial und künstle­risch, zu einem Pro­dukt Hollywoods machen: die industrielle Herstel­lung und massenme­dia­le Verteilung von Filmen, die dennoch Kunst sein können.

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