Streng genommen dauert die Reise von Chicago nach New York nur zehn Filmminuten. Die aber haben es in sich: Man hat den Eindruck, dass Harry und Sally die gesamten 1150 Kilometer oder 18 Stunden lang pausenlos und ohne Luftholen die Grundsätze jener Verfassung diskutieren, nach der Mann und Frau am Ende des 20. Jahrhunderts überhaupt noch als Paar zusammenkommen können.
Für uns setzt When Harry met Sally heimlich, oder besser: implizit, in dieser prototypischen Eingangssequenz das filmisch immens wirksame Prinzip der deadline ein: erfahrene ZuschauerInnen wissen von der ersten Minute weg, als sich Harry leidenschaftlich von seiner letzten Freundin verabschiedet und Sally trifft, die ihn in ihren blassgelben Toyota Corona Wagon-Kombi einlädt, dass es fortan im ganzen Film um die Reise aufeinander zu gehen wird, gerade weil die beiden so unterschiedlich sind (und beide alles andauernd besser wissen): die sympathische Sally, stets um Struktur bemüht und dabei ein wenig verkrampft, und Harry, einnehmend direkt und manchmal rüde. Den größten Erfolg am Gelingen der Mission (und die ist allein: uns von der Richtigkeit der Beziehung von Harry und Sally zu überzeugen) hat die Autorin Nora Ephron (1941-2021), eine Meisterin des Fachs Romantic Comedy. Man verachte das Genre nicht, lange Zeit, in den frühen talkies und in Hollywood überhaupt, bis vor wenigen Jahren, war es beim Publikum das meistgeliebte, für Autoren aber das schwierigste. Nora Ephron hat ihr Können in weiteren Erfolgen wie Sleapless in Seattle (1993) und You’ve got Mail (dt. E-m@il für dich, 1998) bestätigt. Ihrem Gesamtwerk wäre eine Retrospektive zu gönnen.
Unter all den spontan wirkenden, doch äußerst ausgefeilten Dialogen gerät die exquisite Konstruktion von When Harry met Sally ein wenig ins Hintertreffen: die deadline und das finale goal erst einmal gesetzt, an dem sich Harry und Sally, endlich zusammen, wie auf der Coach eines Paarberaters, präsentieren, gliedern fünf entsprechende, eingestreute Interviews mit langfristig verbundenen Paaren, die sonst nichts mit der Story zu tun haben, die Komposition. Diese Paare geben von Weisheiten bis Plattheiten alles von sich, was eine Ehe zusammenhält (und doch sei es am Ende wie beim Melonenkauf, räumt eine Frau ein). Die als dokumentarisch verkauften Inserts fungieren als Rahmungen der Kapitel; nach dem letzten Interview kommen Harry und Sally zusammen, fortan sind sie auf sich allein gestellt. Das letzte Drittel des Films geht um die Wirrungen des Wirklich-zueinander-Findens im „heiratsfähigen Alter“, während die erste Stunde wie in einem Masterplan die Fünfjahresabschnitte mit den wesentlichen Stationen der Twenty-somethings zeigt, Studium und ersten Job, längerfristige Beziehungen, Enttäuschungen und das Reifen daran. Der Film lässt eine Struktur erkennen, die uns als Zuschauende sicher und selbstbewusst macht: Diesen Rahmen stets spürend, sind wir gerne amüsierte, manchmal auch schadenfrohe Reisebegleiter in den finalen Hafen der Ehe.
Es dauerte bis Anfang der 90er, bis die Männerbündelei von Easy Rider ihre Entsprechung in einem Frauenfilm fand. Die beiden Freundinnen Thelma und Louise (Ridley Scott, USA 1991) finden ungeplant zu einer Roadtrip zusammen, der mit einem Knall beginnt und einem größeren Knall endet. Die Reise dazwischen, von Arkansas nach Arizona, ist auf einer schiefen Ebene angelegt, wie in Friedrich Dürrenmatts Kurzgeschichte „Der Tunnel“, in der es immer nur abwärts geht. Halt findet man dabei an den beiden Frauen, die zu jeder Zeit zueinander solidarisch bleiben und dabei stets auch sich selbst treu.
Dreißig Jahre später scheint die amerikanische Frau in schonungsloser Ehrlichkeit bei sich, aber auch in ihrem Land angekommen. Amerika ist heute dort, wo es für Fern (Frances McDormand) Arbeit gibt. Die Straße ist das neue Zuhause, Fern schläft in ihrem Mobil Home. Das preisgekrönte Roadmovie Nomadland (Chloé Zhao, 2020) wurde in fünf US-Bundesstaaten gedreht, mit dem größten Anteil des kameraaffinen Reservats der Badlands von South Dakota (s. Filmtipp 92), die als Drehort hier auch für andere Orte einstehen . In unserem Seminar haben wir die Landkarte des vorgegebenen Vagabundierens protokolliert, mit sehr viel mehr Orten, die Fern aufsuchen musste auf ihrer Reise, die einmal rund um das gesamte Land herum führt. Die Studentin Hannah Dederich hat den Verlauf der Reise zu einem grafischen Objekt gestaltet, das in der Binnenstruktur an den Kopfschmuck eines Indianers erinnert (s. Abb.) Dazu sind die Jahreszeiten angeführt und das innere Reifen Ferns vermerkt; und schließlich die wichtigsten Begegnungen einer Frau, die, das Wort sei an der Stelle gestattet, um nicht weniger als einen Rest Würde in ihrem Leben und ihrem Land kämpft.