FILMTIPP #85: RACHE UND GEWALT IN FILMEN AUS SÜDKOREA

Gleich geht es los. Die Party in PARASITE. Foto: Koch Films

Auf dem Höhepunkt von Parasite (2019) wechselt Regisseur Bong Joon-Ho zweimal das Genre. Es gibt eine Geburtstagsparty für den ver­wöhn­ten Sohn der reichen Familie Park. Vater & Chauffeur ha­ben sich als In­dia­ner verklei­det, um der jungen Kunstlehrerin des Sohnes die Geburtstagstorte zu rauben. Der Junge, ein Indianer­fan, soll seine Leh­re­rin heldenhaft „retten“. Der Aus­flug in den Western ist Spiel, Finte, Ex­kurs. Denn das Spiel wird beendet durch einen Mann, der seit vier Jahren heim­lich im Bunker unter dem Haus lebt, klandestin versorgt von seiner Frau, der Haushälterin der Familie. Die hat er soeben tot aufgefunden. Wie ein Rachegeist taucht dieser Mann aus der Unterwelt auf, blutver­schmiert und mit einem Küchenmesser in der Hand.

Die Passage von der Komödie zur Western-Pa­rodie zum Slasherfilm steht für die Eskalation der Farce, die uns bis zu diesem Punkt glän­zend unterhalten hat. Das Dop­pelspiel ist zu Ende, das die arme Familie mit den Reichen spiel­te: Auf der einen Seite waren das alles brave Ange­stell­te – Chauffeur, Haus­häl­te­rin, Nach­hil­fe­leh­rerIn. An­de­rer­seits agierte die arme Familie die ganze Zeit als kriminelle Bande: Man in­tri­gier­te heimlich gemeinsam, hatte sich schon jeden einzelnen der Jobs durch Tricks oder Lügen erschlichen. Wie so oft in Filmen aus Südkorea gerät die Eskalation dann außerordentlich blutig.

Parasite war der bislang mit Abstand größte Publikumserfolg des süd­ko­reanischen Kinos im Westen, gekrönt durch den ersten Oscar für einen nicht-amerikanischen Film als Bester Film. Er war für alle Generationen von Er­wach­senen vergnüglich, während Oldboy (Park Chan-wook, 2003) einen vergleichbaren Erfolg bei Jüngeren aufweisen kann. Ein Mann wird 15 Jahre gefangen gehalten, ohne dass er den Grund kennt; als er endlich wieder frei ist, entfaltet sich die wendungsreiche Fortsetzung mit Bezug auf Motive wie Rache und Ehre, Schuld und Inzest, die nicht leicht nachzuerzählen wäre. Jedes Motiv ist einzeln anzusehen und macht als Reaktion auf das zurück­lie­gende Sinn; der Plot funktioniert als Häufung bizarrer, blutiger, provoka­tiver Episoden. Die Story taugt als Mutprobe, wie weit man sich in die Tiefen einer für uns exotischen, sozialen Unordnung begeben möchte.

Ruhigere Filme für Erwachsene hat Kim Ki-Duk gemacht, der Ende 2020 ein prominentes Opfer der weltweiten Covid 19-Pandemie geworden ist. Aus einer Fülle von Beispielen – das heißt, aus etwas einem Dutzend Filmen – wähle ich Samaria (2004), den man vielleicht am besten vom Ende her er­zählt: Einem Polizisten, gelingt es, die Ehre seiner Toch­ter wiederher­zu­stel­len, bevor er sich seinen Kollegen stellt. Er hatte einen Freier des etwa 15-jährigen Mädchens zu Hause aufgesucht, diesen vor seiner Fami­lie mit seiner Tat konfrontiert und ihn zum mittelbar darauf folgenden Suizid ge­zwungen. Die Tochter hatte nicht aus freien Stücken oder Geldgier mit dem Mann, mit vielen Männern geschlafen, sondern um ihre Freundin in sym­bolischen Akten wieder rein, un/schuldig, das heißt wieder frei von Schuld zu machen (daher der Titel des Films, der auf eine barmherzige Samariterin anspielt). Die Män­ner bekommen sogar ihr Geld zurück.

Es ist wichtig, dass die beiden Freundinnen zu Beginn fast noch Kinder sind, die sich den Traum erfüllen wollen, gemeinsam nach Europa zu fahren. Dafür entwickeln sie ihr Geschäftsmodell: Die eine spielt die Managerin, während die andere sich an Männer verkauft. Prostitution geschieht hier „im Stan­de der Unschuld“. Nicht als klassische Freier, sondern als durchaus nahbar wer­den auch die (nicht nur Sex suchenden) Männer behandelt. Es geht, wie oft im asia­ti­schen Kino, um die Kollision von Werten, die von Individuen unter­schied­lich gewichtet werden; störend wirkt dabei vor allem die Polizei, die das unge­setz­liche Treiben beenden will. In Folge der Flucht aus einem an­ge­mieteten Zimmer kommt das sich prostituierende Mädchen ums Leben.

Koreanische Filme gefallen deutschen ZuschauerInnen möglicherweise, weil ihnen ein zentrales Motiv abgeht, der entschiedene Abschied von der „ästhe­ti­schen Erziehung des Menschengeschlechts“ (Schiller) durch die Schön­heit der Kunst, die sich bei weniger forschen Aufklärern zu einem Ko­dex ent­wickelt hat, der sich mit Provokationen, Grenzüber­schrei­tungen, mo­ra­lischen Ambi­va­lenzen nicht beschäftigt. Der Schein hat der Idee des Guten zu dienen und nicht umgekehrt. 200 Jahre Idealismus seit Kant, Hegel und Marx ha­ben ih­ren Stempel hinterlassen und uns zu einem Volk gemacht, das seine höch­sten Güter im demokratischen Konsens und in der Gewalten­teilung sieht. Schönheit, ästhetisches Gefallen ist bei uns immer mit einem dahinterlegen­den Gesetz, mit sittlichem Verhalten im gemeinschaftlichen Sinn verbunden.

Unser ethischer Kodex erschwert ein Denken in Kategorien wie die von der Be­rech­ti­gung einer moralisch getriebenen Rache. Die „Reinwaschung von Sünden“ über­nehmen bei uns stellvertretend Staat oder Religion. Schon das biblische Gleich­nis von der ehemaligen Sünderin Maria Magdalena, die zur Dienerin Christi wird, impliziert Reue und ein Bes­se­rungs­versprechen, aber nicht das Vergeben der Sünden anderer; als persön­liche Initiative ist solches Ver­hal­ten bei uns verpönt. Doch es ist das Recht und eine Chance des Kinos, gerade mit­tels uns ferner Kinematographien, solche A­n­trie­be für ein soziales Zusam­men­leben zur Diskussion zu stellen, ohne sie zum Vorschlag zu machen.

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