FILMTIPP #66: THE STRAIGHT STORY VON DAVID LYNCH (USA 1999).

Bildquelle: Screenshot

Die Geschichte des Alvin Straight wirkt wie der Gegenentwurf zu al­len ande­ren Fil­men des Amerikaners David Lynch. Dort geht es um Außenseiter, die sich nicht ein­fan­gen lassen, deren soziale Desintegration Ausbrüche, Ex­zes­se und Hass auf die sogenannten Normalen der Gesellschaft bewirken. Kommu­ni­kation geht für die leidgeprüften Existenzen in Lynchs Paralluni­versen oft nur über den Weg der Ge­walt, ge­gen andere oder gegen sich selbst. Und die We­ge dieser Filme sind verschlungen, verschachtelt, unvorherseh­bar.

Der Weg von Alvin hingegen ist eindeutig. Er führt in gerader Linie, als straight line, an sein Ziel, auf den Landstraßen, die von Laurens, Iowa, nach Mt. Zion in Wis­con­sin führt, wo Alvins Bruder Lyle einen Schlag­an­fall über­lebt hat. Alvin ist 73 Jahre alt; er will den älteren Bruder einmal noch sehen, mit dem er zuvor zehn Jahre lang nicht gesprochen hat. Und so be­gibt er sich auf eine Reise von mehr als 300 Meilen. Er hat nichts, was ihn auf diese Reise be­son­ders gut vorbereitet, zumindest keine äu­ßerlichen Hilfen – wenig Geld und auf den ersten Blick ein un­zu­rei­chendes Ge­fährt, einen Rasen­trak­tor der Mar­ke John Deere. Aber Alvin Straight hat eine Menge Lebens­erfah­rung und ein uner­schütter­li­ches Vertrauen in alle Menschen, die er trifft. Dieses Ver­trauen wird ihm andauernd zurückgezahlt.

Die Eigenart eines Lynch-Films erkennt man nicht, indem man den Plot nach­erzählt. Man muss diese Filme – mehr als die meisten anderen – in etwa sehen, wie man Ma­lerei anschaut. Straight Story wird dann zur Pastorale, zur langen, ruhi­gen Bildme­di­ta­tion über das Heartland, das ländliche Ame­ri­ka, im späten 20. Jahr­hun­dert. Lynch unterstreicht die Zeitlosigkeit seiner Erzählung durch Blicke von oben, auf distanzierte Fi­guratio­nen von Landschaft, wie sie kul­ti­viert oder noch un­ver­nutzt aussieht. Auf den Fel­dern bewegen sich Ern­ter, Mäh­dre­scher und Trak­toren. Sie wer­den bei ihrem Tun nur neu­gierig be­trachtet, ohne jede Kri­tik oder öko­lo­gi­sche Note. Man sieht Alvins winzigen Traktor mit dem An­hänger wie eine Raupe am Hori­zont ge­gen die orangene Son­ne. Fünf Mal gliedert das ster­nen­über­zogene Firma­ment den Film, auch als erstes und letztes Bild des Films. In diesen Mo­menten weiss man, dass Al­vin Straight tatsächlich nur den Himmel, sprich: die Vorsehung über sich hat.

David Lynch (geb. 1947) ist ein akademisch ausgebildeter Maler, er hat die für einen Amerikaner obligatorische Zeit in Europa hinter sich gebracht, mit Stu­dien u.a. bei Oskar Kokoschka.- Seine frühen Filme Eraserhead (1977) und The Ele­phant Man (1980) riefen Expressionismus und Surrea­lis­mus auf. Mit Blue Vel­vet (1986) und der Serie Twin Peaks (ab 1992) wandte er sich dem Subgenre Ame­ri­cana zu. Zum Regionalismus, wie ihn Grant Wood, Ale­xandre Hogue und in Teilen auch Edward Hopper geprägt hat­ten, fügte Lynch eine Prise Verun­si­che­rung hinzu. Die Geschichten ge­hen nicht mehr auf, im­mer ist da etwas, was die Harmonie sprengen kann. Stilbildend war Blue Velvet, der hinter dem Vor­stadtidyll eine wüste Ge­genwelt etab­lier­te. Der Film be­erb­te die ausge­go­rene Romantik Hol­lywoods, machte sie er­wach­sen. Schö­ne Bil­der wurden zu Wunsch­bildern. Lynch rieb sich dabei an der un­vol­len­de­ten Mo­der­ne, die sich nach 1933 nicht länger an Avant­garde und Auf­klä­rung, sondern an der Warenwelt orien­tierte. Male­rei und Skulp­tur war im tech­nischen Zeit­al­ter nicht mehr auf das Schöne ver­pflichtet; Lynch holte diesen Schritt für den Film nach. Man hat in Blue Velvet als ersten postmo­dernen Film gese­hen mit sei­nen übertriebenen Symbolismen, dem Fest­hal­ten an der heilen Welt, die von innen heraus erodiert, mit den aufdring­li­chen Far­ben der Pop-Mo­derne, die das schöne, gesättigte Technicolor mit einem Mal alt aussehen ließen.

Selbst wenn es in The Straight Story ein paar Zeichen Lynch’scher Verunsi­che­rung gibt, wird man den Film dann aber doch mit Augen sehen, die den mi­me­ti­schen Qualitäten von Malerei, Fotografie und Film noch vertrauen. Hier er­scheint eine ganzheitliche Welt, weil die Welt mit Alvin Straights Blick darauf nicht erschüttert oder gespalten erscheint; so wäre, wenn man so will, noch einmal der Abbildtreue der äußeren Realität zu trauen. Dann wären sozusagen zum letzten Mal auch die Gat­tungen der Malerei zu Rate zu zie­hen: die Historie, das Por­trät, das Gen­re (im Sinn des Sittenport­räts), die Land­schaft und das Stil­leben, das Alvin in ei­nem schönen Sprach-Bild, mit dem er eine Drifterin über den Wert der Familie aufklärt, als Parabel nutzt.

Harry Dean Stanton hat als Bruder Lyle am Ende des Films zwei kur­ze Sätze. Dafür bekam er 2017 mit Lucky (2017) eine Fortsetzung, in der Schauspieler und Figur 90 Jahre waren und ebenso eigenartig sind wie die Brü­der Straight.

 

 

 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert