FILMTIPP #53: DER GESCHMACK VON ROST UND KNOCHEN VON JACQUES AUDIARD (F 2012).

Bildquelle: 3sat.de

Eine poetische Erzählung, zu gleichen Teilen bestehend aus Gewalt und Zärtlichkeit, wie sie vielleicht nur einem französischen Film gelingen kann. Stéphanie (Marion Cotillard) ist eine Frau, die für einen Mann wie Ali (Matthias Schoenaerts) normalerweise unerreichbar wäre. Die selbstbewusste Schöne arbeitet in einem Freizeitpark in Antibes, wo sie Orcawale in einem Aquarium betreut und in einem Team Shows mit ihnen aufführt. Bis zu dem Tag, der alles verändert für die unabhängige Frau, von der man sich vor­stellen kann, dass sie in ihrem bisherigen Leben meist getan hat, wozu sie Lust hatte. Es gibt einen Unfall, das Wasser färbt sich rot, Stéphanie verliert beide Unterschenkel. Fortan hat sie die Wahl zwischen Rollstuhl und Pro­the­sen. Sie zieht sich zurück, lebt alleine, verliert jeden Mut.

Ali dagegen ist ein Kämpfer. Er schlägt sich mit Gelegenheitsjobs durch, kümmert sich meist mehr schlecht als recht um seinen kleinen Sohn, hat ab und zu rohen Sex mit einer Zufallsbekanntschaft. Vor einer Disko trifft er Ma­rion, bringt sie nach einer Rangelei mit anderen nach Hause, lässt ihr sei­ne Nummer da. Und sie ruft ihn tatsächlich an, als sie sich nicht mehr anders zu helfen weiss in dem neuen Kapitel, das das Schicksal für sie bereit hält.

Die Beziehung, die sich zwischen beiden entwickelt, ist von höchst seltsamer Natur. Auf Alis Seite regiert die gleiche Pragmatik, die er auch als Hobby­boxer und Teilzeitvater kultiviert. So reagiert er auf Stéphanies Kon­taktauf­nahme, so schlägt er ihr eine Beziehung vor: Er besucht sie und bringt sie gleich mal ans Meer, zu jenem Element, das ihr in ihrem früheren Leben so wichtig war, Er trägt sie auf dem Rücken ins Wasser: eine zärtliche Geste, wie er sie eben kann. So schläft er dann auch mit ihr.

Der Geschmack von Rost und Knochen ist ein Film, in dem Körper eine zentrale Rolle spielen: der versehrte, doch immer noch schöne Körper von Stepha­nie, den sie nun neu kennen und irgendwann auch wieder schätzen lernt, und der mas­sive, trainierte Body von Ali, den er bald für eine neue Passion, ein Free-Fight-Boxen ein­setzt, bei dem Männer wie Kampfhunde aufeinander los­ge­hen und sich blutig schlagen, damit auf sie entsprechende Wetten platziert werden können. Der Instinkt, der zum Überleben da ist, regiert in diesem Film über die Ratio. Solches Verhalten geht von Ali aus, der in dieser Hinsicht für Stéphanie zur Orien­tierungshilfe wird. Bald ist sie genauso weit: Was ihr die Natur genommen hat, beginnt sie sich, mit Gewalt in erster Linie gegen sich selbst, zurückzuholen. Sie sucht die Orcas noch einmal auf, jetzt schon mit Pro­thesen an ihren Beinstümpfen; die Tiere begrüßt sie, im schön­sten Bild des Films, mit auffälliger Zärtlichkeit.

Für einen Moment scheint sich alles gut zu entwickeln. Dann fehlen Marion bei Ali Gefühl, Verlässlichkeit und Treue. Oder Stil, wie sie es nennt. Ali muss für eine Zeit abtauchen. Stéphanie übernimmt einen Teil seiner obsku­ren Geschäfte. Auf ihre Oberschenkel lässt sich sich „rechts“ und „links“ tätowieren. Wie sie von Ali lernt, das Leben in seinen harten Facetten anzu­nehmen, lernt er von ihr Sensibilität und humanes Verhalten. Man darf hof­fen, dass ihm das in Zukunft, vor allem im Hinblick auf seinen Sohn, zugute kommen wird.

Ein außergewöhnlicher Film, bei dem von Anfang an jede Einstellung sehr direkt daher kommt. Ohne jeden Umweg – physisches Kino, wie man es lange nicht mehr gesehen hat. Weil Wasser eingangs und am Ende, im Winter, eine zentrale Rolle spielt, haben wir dieses Meisterwerk in unsere Rei­he „Ki­no im Strom“ aufgenommen. Fünf Tage lang gab es, im Bauch eines Last­kahns auf dem Rhein, Kino mit Filmen zum Thema Wasser. Käutners Unter den Brü­cken zeigte das gleiche Gefährt wie das unsere, gemietete, es gab Life of Pi und All is Lost und vieles Interessante mehr. Für Einführun­gen und ein FSK-Quiz hatten wir hochkarätige Gäste an Bord. Viel­leicht muss man in der ge­genwärtigen Situation wieder einmal an diese besonderen Ta­ge erinnern. Gerade aber gibt es auch vermehrt Stimmen, die an eine Zu­kunft des Ki­nos in unserem Sinne glauben: Hin zu einem Film, der nicht einfach exi­stiert, son­dern an Orten geschieht, schrieb beispielsweise Georg Seeß­len soeben. Fünf Tage Kino auf dem Rhein – ein High­light jeden­falls in der zehnjährigen Geschich­te der Freunde Ingelheimer Filmkultur.

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