FILMTIPP #47: MANCHESTER BY THE SEA VON KENNETH LONERGAN (USA 2016).

Bildquelle: nytimes.com

Der Tod ist eines der großen Themen der Philosophie. Auch im Film kommt er dauernd vor. Im Kriegsfilm, im Thriller, im Melodram, überall wird ge­stor­ben und getrauert. Dann geht anderes Le­ben wei­ter. Im We­stern, hat der Hi­sto­ri­ker Gerd Raeithel geschrieben, seien hun­dertmal mehr In­dia­ner ge­stor­ben als in den echten Indianerkriegen. Vielleicht nehmen wir – un­se­rer Me­diener­fah­rung geschuldet – den Tod nicht ganz so ernst, wie er es verdient.

Pragmatisch gesagt, bietet das reale Leben genug Zeit, um über das En­de nach­zu­denken; im besten Fall wird man alt dabei. Der Prota­go­nist von Man­che­ster by the Sea dagegen hat sein Leben schon hinter sich, er ist ein Dead Man Walking. Lee (Casey Affleck) haust wie unter­irdi­sch, als Haus­mei­ster ei­niger Wohnblocks in Bo­ston. Seinen Job macht er routiniert. Mensch­liche In­ter­ak­tion versucht er zu mei­den. Ins Leben zurückgeholt wird er para­doxer­weise durch ein wei­teren, den plötzlichen Tod seines Bru­ders, der einen 16-jäh­ri­gen Sohn hinterlässt. Dieser Pa­trick (Lucas Hedges), stellt Lee vor eine neue Auf­ga­be. Das ist Aus­gangs­lage und Entwicklungs­poten­tial des Films.

Nach Billy Wilder fängt ein guter Film mit zwei, drei Toten an und steigert die Dosis dann langsam. In Manchester by the Sea wird das Grauen nicht durch weiteres Sterben größer, sondern indem man das Geheim­nis erfährt, das Lee vom Leben ausschließt: Er hatte selbst in Man­che­ster ein tolle Fami­lie, Frau und drei Kinder, die er aus eigenem Verschulden verlor. Wie, sei nicht verraten, aber jeder Mensch, der einen Funken Fami­lien­sinn in sich trägt, wird die Tragik dieses einsamen Mannes nachvoll­zie­hen. Seine Ex-Frau ist mittlerweile mit einem ande­ren Mann zu­sammen und bekommt ein Kind. Die wenigen Treffen mit ihr gehören so­wohl für Lee wie für uns, die wir Casey Affleck bei seinem Leiden zuse­hen, zu den emotionalen Höhe­punk­ten des Films.

Dabei hat auch Lee Emotionen; in der Kneipe, nach dem soundsovielsten stum­men Bier, schlägt er schon mal unvermittelt zu. Und Patrick kann ihn auf die Pal­me bringen. Der bedauert und betrauert zwar seinen Vater glaub­haft, doch über­wiegen bei ihm die tastenden Egoismen des Heranwachsen­den. Auf den ewigen Streit hin, ob er nun zu seinem Onkel nach Boston ziehen muss oder nicht, zählt er seine Band auf, den Hockeyverein, die bei­den Mädchen, mit denen er etwas hat. Und er will unbedingt das Boot halten, auf dem er in einer Art Leite­rin­nerung als etwa Achtjähriger zu sehen ist, ge­mein­sam mit Vater und On­kel, die ihn in die Geheimnisse des Hoch­see­fi­schens wie des Lebens einweisen. Lee und Patrick haben eine Bezie­hung, die aus dem ge­mein­samen Erin­ne­rungs­pool herrührt. Was sie damit nun an­fan­gen, ist sehr ver­schieden: Der eine reibt sich im Hockeyclub und an sei­nem Onkel, lotet das Terrain von Liebe & Sex aus, be­sucht seine bi­gotte Mutter. Wo sich Patrick auf den Weg ins Leben macht, steht für Lee ei­ne Schrank­e. Er verwaltet nur den Status quo. Seine Entwicklung ist win­zig, sie äußert sich meist nur in einem leichten Nicken in Richtung Schicksal.

In einem dichten Gewebe von Rückblenden und präsentischer Ebene, die nach dem Tod des Bruders einsetzt, entwickelt sich das Spinnennetz, in dem Lee gefangen sitzt, zur absoluten Nachvollziehbarkeit. Im Gegensatz zum norma­len Hel­den des amerikani­schen Films, den Rückschläge erst ent­flam­men, fühlt sich für Lee der Dauer­status des Trauernden richtig an. Das hat Effekte auf die Dramaturgie des Films. Zwar sehen wir Lee durchaus einge­bunden in ein Netz von Familie und Freunden, auch die Au­ßenwelt von Man­che­ster im Staat New Hampshire ist freundlich und auf­geräumt, und doch ist emotio­nal, für uns, mit Lee, tiefer Winter; tatsäch­lich bleibt es draußen lange kalt, zu kalt, um den Bru­der in die Erde zu betten. Das ändert sich gegen En­de und wird so schon zum Fortschritt in einem Film, der den Blick auf je­nen schmalen Grat eröffnet, an dem sich mehr oder weniger unbedacht ge­lebtes Leben von der Tragö­die scheidet. Im zweiten Teil, wenn man den bitteren Ab­lauf kennt, ist es dann die Musik, die tröstet: Elegische Ton­bil­der, die einem hindurchhelfen durch diesen traurigen, überaus ein­drucks­vol­len Film. Was man auf dieser Reise erlebt, fasst wieder einmal Lou Reed in Wor­te und Töne: First came fire, then came light. Then came feeling, then came sight.

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