Wären das schöne Zeiten, wenn man auf irgendeine Empfehlung oder Lektüre hin einfach ins Kino gehen könnte. Selten werde ich hier enttäuscht, oft erlebe ich beglückende Überraschungen. So mit Les Misérables, einem Film aus Frankreich, den ich in der Schweiz zu sehen bekam, im gleichen Kino wie Gott existiert, und ihr Name ist Petrunja (2019), ein in der Hauptsache mazedonischer Film und genauso originell wie sein Titel. Ein Geheimtipp.
Les Misérables trägt einen berühmten Titel, hat aber wenig mit dem Roman von Victor Hugo von 1862 zu tun, der seinerseits oft medial wiedergekäut wurde, zuletzt als Musical. Verfilmungen gibt es an die 50. Der Erstling des aus Mali stammenden Regisseurs Ly ist wohltuend frisch und zeitgemäß. Er wirft einen schmerzhaften Insiderblick auf die heutigen Banlieues von Paris, wie ihn keine Sozialreportage bieten könnte. Die Perspektive ist unparteiisch, es wird verschiedensten Typen Raum gegeben. Am Ende zählt immer, wie menschlich kompatibel zu irgendeiner Gemeinschaft, ich will gar nicht von Gesellschaft sprechen, sich der Einzelne verhält.
Hier gibt es kein Oben und unten, keine Segregation nach Hautfarbe oder Religion. Das macht schon die Eingangssequenz klar, als eine freudetrunkene Masse die französischen Fussballweltmeister von 2018 feiert. Mbappé, Pogba, Kanté – People of Colour, wie die meisten ihrer Mitspieler. Was im Fussball gelang, versucht das Viertel Montfermeil mühsam zu erreichen. Hier herrscht ein fragiles Gleichgewicht, das bei Störungen rasch & heftig bebt.
Die für Ruhe sorgen sollen, die Hüter von Recht und Ordnung, bilden die fragile Konstruktion ihrerseits ab: der Teamneuling Stéphane, nach Paris gezogen, um seinem getrennt lebenden Sohn nahe zu sein, erlebt zu Dienstantritt den schlimmsten Tag seines Lebens. Ausgleichend will der ruhige Muslim Gwanda wirken. Es gelingt ihm selten. Die kleine Einheit leidet unter dem explosiven Chris, der keiner Konfrontation, keinem Übergriff aus dem Weg geht. Der weiße Polizist ist die bei weitem unsympathischste Figur des Films.
Nigerianer, Muslimbrüder, Mädchencliquen, Zirkusleute, auch Zigeuner genannt, sind die Kunden der Polizei. Sie alle sollen friedlich nebeneinander leben. Dafür gibt es inoffizielle Ordnungsfunktionen wie den sogenannten Bürgermeister oder den geheimnisvollen Barbetreiber Salah, bei dem viele Fäden zusammen laufen. Die eigentlichen Störungen, die zu blutigen Intermezzi und einem harten Finale führen, kommen von zwei halbwüchsigen Jungs.
Wie in Rossellinis Roma città aperta gibt es eine Parallelwelt der Kinder, die nicht besser ist als die der Großen, doch zu radikaleren Lösungen kommt, weil Kinder die Folgen ihres Handeln nicht abschätzen können. Ein Löwenbaby kommt abhanden, unschuldiges und schuldiges Handeln wird von einer Drohne gefilmt. Die Folgen sind fatal; keiner der Protagonisten kommt aus der Geschichte unversehrt heraus. Dass die französische Kritik begeistert war, dass der Film einen anderen Banlieue-Klassiker, Matthieu Kassovitz’ La Haine (1995), übertrifft, liegt nicht nur daran, dass hier auf allen Seiten gesellschaftliche Verlierer gezeigt werden. Das wäre auch eine hoffnungslose Welt. Lys Verlierer haben ihre Würde und ihren Witz, ihre verdorbene Sprache und ihre Schwächen, aber sie versuchen, bis auf wenige, das Beste.
Während die drei Jugendlichen von La Haine ihr mieses Dasein permanent in realen Spiegeln reflektieren und den Film so zu einem “Spiegelfilm” par excellence werden lassen, der die Abgebildeten im Bild bevorteilt, kommt die bildliche Reflexion in Les Misérables von außen, von der Drohne. Ihre Bilder rücken das Geschehen zurecht, bedeuten eine Kontrollinstanz für gute wie für schlechte Taten. Ihrem Verursacher bekommt das nicht, aber der Kameramann des Films zeigt uns so, im Verbund mit einer unablässig hektischen Handkamera, dass mediales Handeln immer öffentliches Handeln ist und so der “allgemeinen Gerichtsbarkeit” im Sinne Kants zugänglich wird. Im Kino verbleibt das “Urteil” freilich beim Betrachter bzw. der Betrachterin.