FILMTIPP #33: DIE WÜTENDEN – LES MISÉRABLES VON LADJ LY (FRANKREICH 2019). AUF AMAZON PRIME.

Bildquelle: moviepilot.de

Wären das schöne Zeiten, wenn man auf irgendeine Empfehlung oder Lek­türe hin einfach ins Kino gehen könnte. Selten werde ich hier enttäuscht, oft erlebe ich beglückende Überraschungen. So mit Les Misérables, einem Film aus Frank­reich, den ich in der Schweiz zu sehen bekam, im glei­chen Kino wie Gott existiert, und ihr Name ist Pe­trun­ja (2019), ein in der Haupt­sache mazedonischer Film und genauso originell wie sein Titel. Ein Geheimtipp.

Les Misérables trägt einen berühmten Titel, hat aber wenig mit dem Roman von Victor Hugo von 1862 zu tun, der seinerseits oft me­dial wieder­ge­käut wurde, zuletzt als Musical. Verfilmungen gibt es an die 50. Der Erst­ling des aus Mali stammenden Regisseurs Ly ist wohl­tu­end frisch und zeitge­mäß. Er wirft einen schmerz­haf­ten Insiderblick auf die heutigen Ban­lieues von Paris, wie ihn keine Sozial­re­por­tage bieten könn­te. Die Per­spek­ti­ve ist un­par­tei­isch, es wird verschie­densten Typen Raum gegeben. Am Ende zählt immer, wie mensch­lich kompa­tibel zu irgendeiner Ge­mein­schaft, ich will gar nicht von Gesell­schaft spre­chen, sich der Einzelne verhält.

Hier gibt es kein Oben und unten, keine Segregation nach Hautfarbe oder Religion. Das macht schon die Eingangssequenz klar, als eine freu­de­trun­kene Masse die französischen Fussballweltmeister von 2018 feiert. Mbappé, Pog­ba, Kanté – People of Colour, wie die meisten ihrer Mit­spie­ler. Was im Fuss­ball gelang, versucht das Viertel Montfermeil mühsam zu errei­chen. Hier herrscht ein fragiles Gleichgewicht, das bei Störungen rasch & heftig bebt.

Die für Ruhe sorgen sollen, die Hüter von Recht und Ordnung, bilden die fra­gile Konstruktion ihrerseits ab: der Teamneuling Stéphane, nach Paris ge­zo­gen, um seinem getrennt lebenden Sohn nahe zu sein, erlebt zu Dienst­an­tritt den schlimmsten Tag seines Lebens. Ausgleichend will der ruhige Mus­lim Gwan­da wirken. Es gelingt ihm selten. Die kleine Einheit leidet unter dem ex­plosiven Chris, der keiner Konfrontation, keinem Übergriff aus dem Weg geht. Der weiße Polizist ist die bei weitem unsympathischste Figur des Films.

Nigerianer, Muslimbrüder, Mädchencliquen, Zirkusleute, auch Zigeuner ge­nannt, sind die Kunden der Polizei. Sie alle sollen friedlich neben­ein­an­der le­ben. Dafür gibt es inoffizielle Ordnungsfunktionen wie den sogenannten Bür­ger­meister oder den geheimnisvollen Barbetreiber Salah, bei dem viele Fäden zusammen laufen. Die eigentlichen Störungen, die zu blutigen Inter­mezzi und einem harten Finale führen, kommen von zwei halbwüchsigen Jungs.

Wie in Rossellinis Roma città aperta gibt es eine Parallelwelt der Kinder, die nicht besser ist als die der Großen, doch zu radikaleren Lösungen kommt, weil Kinder die Folgen ihres Handeln nicht abschätzen können. Ein Löwen­ba­by kommt abhanden, unschuldiges und schuldiges Handeln wird von einer Drohne gefilmt. Die Folgen sind fatal; keiner der Protagonisten kommt aus der Geschichte unversehrt heraus. Dass die französische Kritik be­geistert war, dass der Film einen anderen Banlieue-Klassiker, Matthieu Kas­so­vitz’ La Haine (1995), übertrifft, liegt nicht nur daran, dass hier auf allen Seiten ge­sellschaftliche Verlierer gezeigt werden. Das wäre auch eine hoff­nungslose Welt. Lys Ver­lie­rer haben ihre Würde und ihren Witz, ihre verdor­be­ne Spra­che und ihre Schwächen, aber sie versuchen, bis auf wenige, das Beste.

Während die drei Jugendlichen von La Haine ihr mieses Dasein permanent in realen Spiegeln reflektieren und den Film so zu einem “Spiegelfilm” par excellence werden lassen, der die Abgebildeten im Bild bevorteilt, kommt die bildliche Reflexion in Les Misérables von außen, von der Drohne. Ihre Bil­der rücken das Geschehen zurecht, bedeuten eine Kontrollinstanz für gute wie für schlechte Taten. Ihrem Verursacher bekommt das nicht, aber der Ka­mera­mann des Films zeigt uns so, im Verbund mit einer unab­lässig hekti­schen Hand­kamera, dass mediales Handeln immer öffent­liches Handeln ist und so der “allgemeinen Gerichtsbarkeit” im Sinne Kants zugänglich wird. Im Kino verbleibt das “Urteil” freilich beim Betrachter bzw. der Betrachterin.

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