FILMTIPP #45: LAZZARO FELICE/ GLÜCKLICH WIE LAZZARO VON ALICE ROHRWACHER (I 2018)

Bildquelle: youtube.com

Italien wird aus der nördlichen Perspektive geliebt, und, machen wir uns nichts vor, gern im Modus von Eat Pray Love: die gängige Ein­tritts­zone für unsere entspannten Urlaubsphantasien ist die ­freund­liche Toskana mit ihren vielen Juwelen. Vene­dig ist der gebaute Traum schlecht­hin; fährt man hin, kann das Erwachen hart sein. Rom wäre wiederum der Ort, um an­de­ren Rei­sen­den aus dem Weg zu gehen; die Römer selbst er­wecken gerne den Ein­druck, als ginge ihnen jeder einzelne Tourist auf den Keks. Am süd­lichen Stadt­rand, heißt es in Rom, be­gin­ne dann schon Afri­ka. Das vitale Nea­pel hat ein ganz anderes Ima­ge als die europä­isch an­gehauch­ten Metro­polen des Nordens. Neapel gilt als chao­tisch und ge­fährlich – und ein wenig mythisch. Der Mythos verdich­tet sich, je südli­cher man kommt, mit Sizilien als ver­klär­tem Höhepunkt: Ein kaum zutreffendes Bild, wenn man mal länger da ist.

Das spiegeln auch Filme über Italien, denn die Kreativen des Landes reflek­tie­ren seit jeher über sich und die oft harten Bedingungen, unter denen man in dem schö­nen Land le­bt. Wir von F!F haben einmal geträumt und den Stadt­platz von Ingelheim mit dem no­stal­gischen Cinema paradiso einen war­men Sommerabend lang ver­zaubert. Der populärste Film über Italien/er ist freilich der gewalthaltige Der Pa­te. Die dreiteilige Saga des Italo-Ame­ri­ka­ners Cop­pola hat wiederum die epi­sche Kraft, die eine Qualität vie­ler ge­nuin ita­lie­ni­scher Filme ist. Davon wird heute die Rede sein, anhand eines Films, der eine märchenhafte Ge­schich­te erzählt und doch ganz reali­stisch von dem italieni­schen Januskopf handelt, der uns im Kino immer wieder aufs Neue anblickt.

Der Film heißt Lazzaro felice, der “Glückliche Lazarus”, und man tut gut daran, sich die Episode des bib­li­schen Lazarus, Bruder von Maria Magdale­na, der “Sünderin”, vor Augen zu füh­ren: Nach Joh.,11 wurde der einbalsa­mierte Mann vier Tage nach seinem Tod von Jesus aufs Neue zum Le­ben er­weckt. Auch der neue Lazzaro hat zwei Leben; zur Mitte des Films hin stürzt er im Gebirge einen steilen Hang hin­unter, er­wacht wunder­samer­wei­se wie aus einem Schlaf und wandert di­rekt in eine zweite Existenz. Ein Kunstgriff des Films ist, dass die Hand­lung, zunächst unmerklich, etwa 25 Jahre über­springt; unmerklich deshalb, weil Lazzaro selbst keinen Tag ge­al­tert ist, eben­so seine engste Familie, die ihn in den neuen Abschnitt begleitet.

So wie die Geschichte zeitlich auf den zwei Tafeln eines Dyptichons statt­fin­det, ist der Film auch geographisch geteilt: Zunächst spielt er auf dem Land, in einer archaischen Dorfgemeinschaft, die keinen Kontakt zur modernen Welt hat außer durch einen widerlichen Verwalter, der auf dem Moped anreist und die Bauern im Auftrag einer reichen Marchesa um den Lohn ihrer Ar­beit betrügt. Lazzaro hat in dieser Gemeinschaft die Rolle des gutmü­ti­gen Naiven inne, der für jede stupide Arbeit einzuspannen ist und sich dafür auch immer noch bedankt, wie der holy fool bei John Ford. Erstaunlich die vielen Film-Ver­wei­se, die Alice Rohrwacher untergebracht hat: Man mag hier die länd­li­chen Kol­lektive wiederer­kennen, die ein De Santis im Nachkrieg in der Hoff­nung auf die Um­keh­rung solcher Besitzverhältnisse porträtierte, oder auch das Ver­geb­liche sol­cher Hoffnungen in Olmis wunderbarem Holz­schuh­baum. Auch Bertoluccis 1900 wird aufgerufen in der Freund­schaft zweier jun­ger Männer, die sich auf Dauer als nicht tragfähig erweist.

Denn der zweite Teil spielt in einem harten, heutigen Mailand, und der einzi­ge Freund des ewig jungen Heiligen, der Sohn der Marchesa, ist nicht nur alt geworden, er ist in der Stadt auch zum Lügner und Betrü­ger ver­kom­men. Mit seinem Namen, Tancredi, wird auf den Neffen des Fürsten Sa­lina in Viscontis Der Leo­pard angespielt, dem Meisterwerk, das den Niedergang des land­be­sit­z­enden Adels zeigte; und ein wenig steckt hier auch Rocco und seine Brü­der drin, die ebenfalls aus dem Süden in den kalten Norden migrierten.

Lazzaro felice geht über den sentimentalen Aufruf einer glo­rifizier­baren Ver­gangenheit aber weit hinaus. Von der klassischen Tragödie, die dem neoreali­sti­schen Film häufig als Inspiration diente, übernimmt er die Struktur: Es gibt den Helden und den Antagonisten, dazu den “Chor”, der das Drama begleitet und re­flek­tiert. Dass der Protagonist in einem zeitlosen Bild, einem Ideal, ein­friert, ist aber ein einzigartiger drama­tur­gischer Wurf. Er macht Lazzaro zum würdigen Teil einer großen Filmgeschichte. Ein zauberhafter Film.

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