FILMTIPP #18: WHERE THE TRUTH LIES/WAHRE LÜGEN VON ATOM EGOYAN (KANADA/GB 2005). AUF DVD UND (GEGEN AUFPREIS) ZU STREAMEN.

Bildquelle: movieonline.com

Ein Juwel von einem Film, nach einem Bestseller, eine ver­zwickte, ver­win­kelte Geschichte über die Suche nach Wahrheit, die bekanntlich umso mehr Gesichter hat, je mehr Menschen auf sie schauen.

Egoyan, der armenisch-kanadische Regisseur, hat es geschafft, die Handlung des 300 Seiten-Romans von Rupert Holmes zu einem runden Film zu ver­dich­ten, der nie zuviel erklärt. Jede Figur hat ihr Geheimnis und ihren indivi­duel­len An­trieb, jede/r versucht andere zu betrügen. Am Ende bekommt nur eine Randfigur, die Mutter des Opfers, annähernd das, was sie sich wünscht. Die Protagonisten sind dagegen typische Bewohner des Egoyan-Uni­versums: getrieben, für sich und entfremdet. Und das, obwohl oder ge­ra­de weil sie in Where the Truth Lies intensiv am Glücksversprechen des Show-Business, des Fernsehens oder auch des journal­istischen Ruhms schnuppern.

Lanny (Kevin Bacon) und Vince (Colin Firth) sind in den späten 50ern ein er­folgreiches Entertainer-Duo, das sich perfekt ergänzt: Der schrille Lanny provo­ziert, Vince mo­de­riert und gleicht aus. In einem 39-Stunden-Tele­mara­thon sammeln die beiden Spenden für po­lio­kranke Kin­der. Am Abend, in der Hotelsuite in Miami, ist dagegen Entspannung an­ge­sagt: mit Champagner & Pillen, die sowieso pausenlos eingeworfen werden, und durch eine at­trak­ti­ve Stu­dentin, die als Kellnerin jobbt und am nächsten Morgen tot sein wird.

Wie die Leiche in die Badewanne eines Hotels an der Ostküste kam, was die Mafia und vor allem: Was Lanny und Vince damit zu tun hatten, versucht die junge Journalistin Ka­ren (Alison Lohmann) 15 Jahre später herauszufinden. Als Kind war sie gehät­schel­ter Star der Polio-Gala, und noch immer ist sie fas­ziniert von den beiden Entertainern, die nun seit langem getrennte We­ge gehen. Leider kann sie ihre berufsbedingte Neugier nicht von der per­sön­li­chen Faszination für Lanny trennen. Der agiert nach wie vor char­mant; doch hinter der Fassade ist er haltlos und zynisch. Auch den zu­rück­ge­zo­gen leben­den Vince stöbert Karen auf. Diese Begegnung hat die heftigsten Folgen­.

Wenn man Where the Truth Lies mit allen Filmen vergleicht, die wir Film­freunde bis­lang gespielt haben, kommt ihm zweifellos Woody Allens Match Point am näch­sten. Die Männer halten sich für clever, doch die Frauen sind durchtrieben: Bei der Durch­set­zung ihrer Ziele spielen Geld & Sex die größ­ten Rollen. Als Zuschauer weiss man nie so genau, wen man sym­pa­thisch fin­den soll. Die Geschichten nehmen zahl­rei­che, kaum vor­herseh­bare Wen­dun­gen. Das hat wohl auch etwas Symptomatisches für das Jahr, dem bei­de Fil­me ent­stammen – 2005, mitten im entfesselten Kapitalismus der Nuller Jahre.

Where the Truth Lies war ein Erfolg auf Festivals und im Arthouse, doch die ameri­kanische Kritik schrieb heftig gegen den Film an. Fehlende Chemie zwischen den Figuren, zuviel expliziter Sex, eine schlechte Hauptdarstellerin waren ein paar der Vorwürfe. Tatsächlich gab es danach einen Bruch in der Karriere Egoyans, der vorher, mit The Sweet Hereafter (1997), ein phäno­me­nales Versprechen auf seine Zukunft abgegeben hatte.

Tatsächlich lebt Where the Truth Lies von Passagen, in denen über die Strän­ge geschlagen wird, in denen Exzess regiert. Vince setzt zwei Frau­en unter Drogen und schaut ihnen beim Sex zu, während “White Rab­bit” er­tönt und die kindische Unschuld von “Alice im Wunder­land” tor­pe­diert. Perver­sion oder mindestens sexuelle Devianz werden zum Schlüsselbild: Die Szene ist der Spie­gel oder auch die Rache für Vince an Lan­ny, der ihm in einer ähn­li­chen Si­tuation Grenzen aufgezeigt hatte. Dass Atom Egoyan im Jahr 2005 auch die Ma­chen­schaften ei­nes Har­vey Wein­stein schon im Detail paraphra­sierte, lässt den Film heute aktuell er­schei­nen. Kaum je­mand im ‘offi­ziel­len’ Hollywood wollte damals so etwas ahnen, geschweige denn schon sehen.

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