FILMTIPP #112: EINE EINSTIMMUNG AUF DAS PROGRAMM DER SAISON 2023.

Foto: Werbematerial der Zeit

Dieser Tage haben wir den ersten Entwurf des Jahresprogramms für das laufende Jahr diskutiert. Noch können wir darüber nichts sagen, denn Orte und Filme müssen erst abgesichert werden, da ergeben sich immer noch Änderungen. Was feststeht ist, dass wir wieder mit den Internationalen Tagen kooperieren werden und auf Wunsch der IT zwei Klassiker zur Ausstellung von Ernst Ludwig Kirchners Grafik beisteuern werden: den alten Berlin Alexanderplatz und Walter Ruttmanns dokumentarischen Filmessay Berlin – Sinfonie der Großstadt von 1927.

Die F.A.Z. bat mich vor 20 Jahren, über den letztgenannten Film sowie sein „Remake“ von 2002 zu schreiben. Der Text erschien dann stark gekürzt, hier folgt die vollständige Fassung.

75 Orchestermusiker waren im ganzen Saal verteilt. Neben ihrem musikalischen Können unterhielten sie das Premierenpublikum mit dem Geräusch von Hupen, Rasseln und ähnlichen Krachmachern. Sogar ein Amboß war in den Tauentzien-Palast geschleppt worden, um das Angebot für die Augen um Hörbares zu erweitern. Nicht bekannt ist dagegen, mit welchen Überraschungen die Uraufführung von Thomas Schaads neuem Film Berlin – Symphonie der Großstadt aufwartet, der dieser Tage auf dem Potsdamer Platz seine Premiere hat. Die Namensgleichheit mit Walter Ruttmanns klassischem Berlinfilm von 1927 lässt immerhin fast zwangsläufig Ambitionen vermuten, wie sie bereits vor 75 Jahren an den Tag gelegt wurden.

Ruttmanns Film schaffte es, bis heute in den Geschichten der Weltkinematographie vertreten zu sein, indem er einen einzigen Frühlingstag der Metropole zeigte. Die Stadt erwacht, ein einzelner Mensch geht zur Arbeit, dann viele. Züge rollen ein, Maschinen beginnen mit dem Tagwerk. Gegen Mittag wird die Hektik geringer, kommt der Organismus kurz zur Ruhe, ehe das Crescendo wieder einsetzt und unter stetigen Rhythmuswechseln mit den abendlichen Vergnügungen zu seinem Höhepunkt findet. Daß eine so simple Struktur für den Kritiker Willy Haas zum „größten, grundsätzlich wichtigen Filmereignis seit vielen Jahren“ wurde, lag an den Möglichkeiten der Montage. Mit ihr wurde die Filmkunst musikalisch, ohne das Primat des Optischen einzubüßen. Ruttmanns Werk, heutiger Clipästhetik durchaus nicht unverwandt, verwirrte und verärgerte dagegen Kritiker, die mehr als den Reiz der filmischen Oberfläche begutachten wollten.

Walter Ruttmann, 1887 in Frankfurt am Main geboren, war Maler, bevor er zum Film kam. Er spielte eine zentrale Rolle in der Bewegung des „absoluten Films“, die gegen Mitte der zwanziger Jahre ihren Zenit erreichte. Abstrakte Malerei auf der Achse der Zeit lautete das ambitionierte Ziel, das freilich mit dem Geschmack des Massenpublikums nicht zu vereinen war. Und so war es Ruttmann, der mit einem kurzen Stück Film die meisten Zuschauer für die Sache der Avantgarde gewann: jener organisch eingefügten, animierten Sequenz aus Fritz Langs Nibelungen-Opus erster Teil, in der zwei schwarze Adler einen weißen Falken jagen und schließlich zur Strecke bringen.

Einmal Avantgardist, immer Avantgardist, unter diesem Motto stand der Rest der Karriere dieses deutschen Filmkünstlers. 1929 erscheint sein Vorname plötzlich neusachlich – vorher hatte er sich Walther geschrieben. Früh experimentiert Ruttmann mit dem Tonfilm, nimmt am legendären Treffen der Avantgardisten im schweizerischen La Sarraz teil und dreht dort einen Scherz mit Eisenstein und Hans Richter, der leider verloren gegangen ist. Spätestens ab 1933 wird die Sache der Avantgarde in Deutschland dann auf die Seite des Kinopublikums verla­gert, das hier sein Volk, sein Reich und damit sich selbst erkennen sollte. Ruttmann-Titel wie Altgermanische Bauernkultur und Metall des Himmels täuschen dann kaum mehr über ihre Einladung zum majoritären Mitmachen hinweg.

Im Moment wird über den Dokumentarfilm aus den finstersten deutschen Zeiten aufwendig geforscht. Erste Ergebnisse legen die Vermutung nahe, das keiner der zahlreichen Zelluloid­meter aus jener Zeit herauszudenken ist: Schon mit dem Erscheinen im Kino war er dem großen Zusammenhang einverleibt. Diese Einsicht entlastet die historischen Autoren partiell. Walter Ruttmann wurde auf dem einzigen Filmkunstfestival des Vorkriegs, in Venedig, hoch dekoriert. Heute ist aus seinen Filmen zu lernen, dass die Funktion dokumentarischer Filme nie allein das Dokumentieren ist, so wie Spielfilme ihrer Zeit nie vollständig enthoben sind. Die Frage nach Soziologie oder Ästhetik weicht der Erkenntnis, dass beim Film das eine ohne das andere nicht zu haben ist.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert